6. Juli '20
Photo by Miguel Á. Padriñán from Pexels
Viele die in Unternehmen arbeiten kennen die Situation: Es gibt eine Änderung, eine Neueinführung oder einfach nur ein Problem, welches in einer Gruppe abgestimmt und entschieden werden soll. Obwohl das einfach klingt, scheint es oft selbst mit Moderator kaum möglich eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. Und falls doch, so fühlt sich das Ergebnis oft schal an – man wird das Gefühl nicht los, dass die Entscheidung weniger auf Fakten, als auf Basis von persönlichen Vorlieben, Seilschaften und „versteckten Agendas“ getroffen wurde.
Entlehnt aus dem Universum der „Soziokratie“ gibt es einen Entscheidungsfindungsprozess für Gruppen, welche Entscheidungen zielgerichtet vorbereitet und durchführt. Wer als Agiler Coach, Scrum Master, Projektmanager oder Führungskraft regelmäßig Gruppendiskussionen moderiert, der findet hier ein sehr nützliches Werkzeug zur Entscheidungsfindung. Wer sogar einen Schritt weiter gehen möchte, findet eine Inspiration wie eine agile Organisationsform aussehen kann in Form der Soziokratie. (Weiterführende Links dazu am Ende des Artikels)
Soziokratien sind eine Art der Organisation, bei der mehr Entscheidungsgewalt auf die Mitarbeiter/Teilnehmer übertragen wird. Es steht damit im Gegensatz zur Autokratie, in der die Entscheidungsgewalt bei einer einzelnen Person liegt. (Z.B. dem Vorgesetzten/dem Manager)
Dies äußert sich oft in Sätzen wie „Das kann ich nicht entscheiden“ oder „Das muss XY bestimmen, nicht wir“. Oft werden diese Strukturen als lähmend empfunden, da Einzelpersonen kaum Verantwortung übernehmen dürfen, da sie per Struktur oft entscheidungsunfähig sind. (Nicht als Person an sich, sondern durch das System „entmündigt“)
Ähnlich wie agile Methoden (z.B. Scrum/Lean) basieren soziokratische Modelle auf der Annahme, dass Unternehmen erfolgreicher sind, wenn die Fähigkeiten aller Mitglieder zum Tragen kommen, anstatt darauf zu hoffen, dass Führungskräfte die besten Entscheidungen in allen Belangen treffen können. (und sie auch die Zeit besitzen all diese Entscheidungen tatsächlich zu treffen)
Im Kern der soziokratischen Organisationsform steht die Unterscheidung zwischen Konsens und Konsent.
Konsens bedeutet: Wir sind alle der gleichen Meinung (engl: „I agree“)
Konsent bedeutet: Niemand hat einen Einwand. (engl. „No objection“)
Auf den ersten Blick mag es sehr ähnlich klingen, doch man stellt schnell den signifikanten Unterschied fest: Die Toleranz. Die Menge der Dinge denen man zustimmt ist immer kleiner als die Menge der Dinge die man bereit ist zu tolerieren. Wenn ich beispielsweise keinen Fisch mag, würde ich einer Entscheidung, dass es Fisch zu essen gibt nicht zustimmen (Kein Konsens) – allerdings könnte ich es tolerieren, wenn es auf einer Feier gegessen wird, da organisatorisch nicht jeder berücksichtigt werden kann (Keine Einwände = Konsent). Eine Lebensmittelallergie wäre jedoch ein Einwand, der außerhalb meiner Toleranzgrenze liegt. (Objection)
Basierend auf dieser Erkenntnis geben soziokratische Organisationsformen einen Leitfaden, wie man diese Methodik zur Entscheidungsfindung in Gruppen umsetzen kann:
Voraussetzung ist hierbei immer, dass es einen Moderator gibt, der diesen Prozess strukturiert durchführt und idealerweise bei jedem Schritt noch einmal erläutert worauf es ankommt.
Die Person die den Vorschlag eingebracht hat stellt diesen vor. (z.B. durch Vorlesen) – oder er/sie stellt den Vorschlag vor dem Meeting allen Teilnehmern zur Verfügung. Im Zentrum steht hier der klare Informationsaustausch um Missverständnisse zu vermeiden. (Missverständnisse und unterschiedliche Informationsstände führen bekanntlich zu langwierigen Diskussionen und ggf. Fehlentscheidungen!)
Hier soll sichergestellt werden, dass alle Teilnehmer den gleichen Wissensstand haben und alle Fragen geklärt sind. Reihum wird durch den Moderator abgefragt, ob es klärende Fragen gibt. So ist sichergestellt, dass jeder die Möglichkeit hatte zu sprechen. Wichtig ist hier, dass es keine Diskussionen gibt, sondern nur klärende Verständnisfragen. D.h. erlaubt ist die Frage „Ich habe nicht verstanden, an welchem Datum der neue Fahrplan eingeführt werden soll“ – nicht jedoch „Die neuen Fahrpläne braucht man doch nicht, oder?“ (Hinweis und Moderation durch Moderator)
Reihum wird nun abgefragt ob es Einwände gibt (Objections) oder ob „Konsent“ besteht.
Wenn es keine Einwände gibt, so kann die Entscheidung verkündet und protokolliert werden und ist damit in der Gruppe getroffen. Gibt es Einwände, so müssen diese nacheinander aufgelöst werden. Wichtig ist, dass Einwände etwas positives sind, deren Inhalt man idealerweise nutzt um den Vorschlag zu verbessern. Wichtig ist auch, dass Einwände nur auf objektiver Basis getroffen werden dürfen. Wenn jemand „nur ein schlechtes Gefühl hat“, so muss der Moderator zusammen mit der Gruppe eruieren, ob es hier handfeste Argumente gibt, die in den Vorschlag eingearbeitet werden können, oder ob es sich nur um Präferenzen oder andere Emotionen handelt, die nicht auf Fakten basieren. Detaillierte Beispiele zum Umgang mit Einwänden in Meetings auf Basis von „Konsent“ finden sich hier (ab Seite 11), da dies den Rahmen des Artikels sprengen würde.
Meiner Erfahrung nach ist Konsent eine hervorragende Methode um wichtige Entscheidungen in Gruppen effizient zu treffen. Der Prozess sorgt dafür, dass alle auf dem gleichen Informationsstand sind, nur faktische Einwände zugelassen werden und diese dann zur Verbesserung des Vorschlags genutzt werden. Gleichzeitig hat jeder die Möglichkeit sich zu äußern, was dafür sorgt, dass jeder die Entscheidung am Ende auch mitträgt.
Neben all diesen Vorteilen müssen allerdings zwei Punkte beachtet werden:
Ich hoffe dieser Artikel konnte Sie inspirieren neue Methoden (oder gar Organisationsformen) auszuprobieren um ihr Unternehmen effektiver zu gestalten. Wenn Sie gerne mehr über das Thema Soziokratie erfahren möchten, stöbern Sie gerne durch die folgenden weiterführenden Links.
Allgemeine Infos, Einführungsvideos und Artikel zum Thema Soziokratie. Link
Entscheidungsfindung in Gruppen. (Umgang mit Einwänden ab Seite 11) Link
Buchempfehlung: Frederic Laloux, Reinventing Organizations: Link